Sündige tapfer!
Dieses Lutherwort ist missverständlich, doch richtig verstanden und gelebt befreit es den Menschen. Dieses Wort steht im Zentrum der reformatorischen Theologie. Hier treffen sich Sündenlehre, die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben und die Versöhnungslehre.
- Von Helmut Frank
Sündige tapfer, aber tapferer glaube! Wollte Martin Luther damit sagen, wir sollen jetzt über die Stränge schlagen? Theologen aller Generationen – auch evangelische – haben versucht, dieses Lutherwort, das in einem Brief an Melanchthon vom 1. August 1521 überliefert ist, abzuschwächen. Luther wäre überarbeitet gewesen oder habe wieder einmal rhetorisch übertrieben, heißt es. Seine Gegner warfen ihm vor, den Sittenverfall zu befördern, Hurerei und Mord Vorschub zu leisten.
All dies hatte Luther natürlich nicht im Sinn, er meinte kein »sündige drauf los«. Wenn dies jemand dennoch tun wollte, konnte Luther ironisch werden und sagen: »Wer in Babylon bleiben will, der bleibe, aber man muss ihm ebenso tapfer ankündigen, dass er in der Hölle enden werde.«
Man missversteht das Wort, wenn man Sünde moralisch versteht. Das passiert, weil der Begriff »Sünde« längst in der Reihe der theologischen Unwörter gelandet ist – zusammen mit dem Teufel, der Hölle und dem Jüngsten Gericht. In Predigten tauchen diese Begriffe nicht mehr auf, obwohl die Bibel Eindeutiges dazu zu sagen hat.
Zur Verdrängung kommt die Verharmlosung: Man redet vom »Rotsünder« auf dem Fußballplatz, vom »Verkehrssünder« auf der Straße und vom »Sündigen« im Zusammenhang mit dem Genuss von Pralinen. Freilich hat die Kirche selbst viel dazu getan, den Begriff der Sünde zu entleeren, als sie ihn moralisch interpretierte, und alles was den Menschen Spaß macht, in die Nähe des Verwerflichen rückte. Lange hat sich die Kirche darüber definiert, dass sie nach dem St. Floriansprinzip den Menschen ein schlechtes Gewissen gemacht und die Angst vor Teufel, Tod und Hölle geschürt hat, um dann als Heilsanstalt die Bedingungen der Rettung zu diktieren.
Doch Luther hatte keinen moralischen Sündenbegriff. Christsein bedeutet nicht, um die Erhöhung unseres moralischen Punktekontos zu kämpfen. Ihm geht es nicht primär um die kleinen und größeren Sünden, die wir – bewusst oder unbewusst – täglich begehen. In seinem Verständnis von Sünde orientiert sich Luther an Paulus. Für den Apostel ist der Gegensatz zu Sünde keinesfalls Tugend, sondern Glaube und Vertrauen auf Gott (Römer 14, 3). Andersherum nennt Paulus all das Sünde, was nicht aus dem Glauben, das heißt aus der Einheit mit Gott kommt. Die Sünde, das ist theologisch gesprochen der Unglaube. Luther hatte dies erkannt, als er die Formel entwarf »pecca fortiter, sed fortius fide«, »sündige tapfer, aber tapferer glaube!«
Im ausgehenden Mittelalter klang diese Aufforderung provokativ. Sünde, Tod und Teufel waren Realitäten, die Angst vor Höllenqualen und Fegefeuer allgegenwärtig. Luthers »sündige tapfer« wirkte wie ein Hohn auf die damalige Kirche, die alle Anstrengung darauf verwandte, die Sündenlast dem Menschen bewusst zu machen, »um sie dann durch einen finanziellen Ablass mindern zu können. Die institutionalisierte Gnadenvermittlung war gefährdet, die Kirche alarmiert.
Aber Luther bagatellisiert die Sünde nicht, ganz im Gegenteil: Er diagnostiziert dem Menschen eine von »tiefer Verkrümmtheit und Verderbtheit und Bosheit« durchsäuerte Natur. Für Luther ist der Mensch gänzlich Fleisch, gänzlich Sünde. In seinem Werk »Der geknechtete Wille« (1525) stellt er klar, dass der Mensch da auch nicht von alleine rauskommt. Grundsätzlich gilt: Der menschliche Wille vermag nichts in dem, was das Heil angeht. Der Wille ist durch die Sünde gefangen, er ist nur noch frei zum Bösen (Heidelberger Thesen von 1518). Mit Paulus sagt Luther: »So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt« (Römer 7,17) und »Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.« (Römer 7,20). Luther spricht in Bezug auf die Sünde dramatisch von der »Alleinwirksamkeit Gottes«, die den »freien Willen des Menschen niederstrecke wie ein Blitzschlag«.
Einen Ausweg gibt es nur durch den Glauben, dass Gott es richten kann, das andere bewerkstelligt dann Gott: Luther nennt das »fröhlichen Wechsel«: Die Übertragung der Sünde auf Gott. In der menschlichen Natur führt Gott nach Luthers Überzeugung einen »Gigantenkampf mit sich selbst« aus. Die menschliche Natur ist das Schlachtfeld dieses Kampfes.
Luther war also mit seinem berühmten Spruch ganz eng am Pauluswort »Wir sind allzumal Sünder« (Römer 3,23). Luther meinte: Steh dazu, dass du ein Sünder bist und bleibst, und sieh der Sünde unerschrocken ins Gesicht. Mach vor dem Abgrund deines Lebens nicht kehrt, sondern schau mutig hinunter, denn dort findest du den rettenden Christus!
Psychologisch gedeutet kam es Luther darauf an, dass die Sünde nicht nach innen verdrängt wird. Sie muss begangen, bewusst gemacht und bekannt werden, sonst zerfrisst sie das Innere. Das Chaos in und um uns gilt es tapfer zu akzeptieren, so wie der heilige Franziskus von Assisi den bedrohlichen Wolf von Gubbio in die Arme nahm und sich mit ihm arrangierte. Luther erkannte: Der Versuch, das Böse zu eliminieren, scheitert im Inneren und Äußeren. In der Welt wird dadurch nur neue Gewalt geboren, im Selbst werden neue Abgründe geschaffen.
Es lohnt sich, das Wort »Sündige tapfer, doch tapferer glaube« im geschichtlichen Zusammenhang zu verstehen. Luther schrieb es seinem Freund und Kollegen Melanchthon. Magister Philippus war der kluge Kopf der Reformation, aber er hatte eine Schwäche. Er war ein Grübler und traf höchst ungern Entscheidungen. Im Gegensatz zum vorpreschenden Luther war er nachdenklich, bedächtig, voller Selbstzweifel. So verbrachte er schlaflose Nächte und zögerte Entscheidungen hinaus, wo er nur konnte. Seine Verzagtheit bescherte ihm ein Magengeschwür, er musste sich von Schonkost ernähren. Luthers Botschaft an den Freund war: Du kannst nicht leben, ohne Fehler zu machen. Falsche Entscheidungen gehören dazu. Auch Abwarten kann ja falsch sein. Keine Angst also, nur Mut. Sündige tapfer! Luthers zweiter Rat: Glaube noch tapferer! Du bist nicht allein, der gnädige Gott kann deine Fehler zum Guten wenden.
Luther riet Melanchthon, im Vertrauen, im Glauben an Christus zu handeln, im Glauben etwas zu wagen, das zu tun, was er im Glauben vor Christus verantworten konnte. Dabei sollte er nicht so viel an sich und seine Reinheit denken, sondern eben an Christus, der die Sünde wegnimmt und überwunden hat. Das heißt: Der Gegensatz zur Sünde ist nicht die gute, reine, eigene Tat, sondern der Glaube.
Luther ging es um mehr als um die psychische Balance: Christus ist stärker als das Über-Ich, das über Generationen von der moralischen Institution Kirche befeuerte schlechte Gewissen. Der vergebende Christus soll diesen Platz einnehmen. Luther hielt die Beichte für den adäquaten Rahmen, Sünde auszusprechen und Vergebung zu erfahren.
Es gibt also keine Reihenfolge »erst sündigen, dann glauben«, sondern nur ein »der Sünde glaubend ins Gesicht schauen«. Sich irgendwie durchzulavieren war Luthers Sache nicht. In seiner Spätschrift »Wider den Kardinal von Magdeburg« bat Luther im Schlusssatz: »Gott hilf, dass wir fromme Sünder bleiben und nicht heilige Lästerer werden.« Rudolf Alexander Schröder hat es so ausgedrückt: »Wer nicht sündigen will, will auch nicht erlöst werden. Der vollkommen Heilige würde des Teufels sein.«
Philosophen aller Epochen haben versucht, das Phänomen der Sünde zu deuten und zu erklären. Ausgangspunkt war dabei fast immer die unstreitbare Erkenntnis, dass der Mensch zum Bösen fähig ist. Diese Beobachtung führt zur Frage: Wie kam die Sünde in die Welt? Ein Betriebsunfall Gottes, weil nicht vorgeplant?
Dabei wurde die Sünde nicht immer nur negativ interpretiert. In der idealistischen Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels wird Sünde als vom Schöpfergott durchaus kalkulierter Fortschritt gesehen. Des Menschen Sünde ist dann die wichtige Emanzipation von Gott, der Sprung in die Existenz. Das Böse muss sein, um aufgehoben zu werden. Freiheit, Getrennt sein von Gott und wahres Menschsein sind bei Hegel dasselbe.
Nach Ansicht des dänischen Philosophen Soren Kierkegaard hat der Mensch gar keine Wahl, weil er schon dadurch zum Sünder wird, dass er sich der Freiheit bedient, also von der »träumenden Unschuld« erwacht. Ganz in der Tradition Luthers steht auch der Ansatz von Bonhoeffers Ethik, dass der Mensch bereit sein muss, Sünde auf sich zu nehmen. Es ist die Voraussetzung für die Lebendigkeit des Menschen.
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