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    Luthers wichtigster Kampf

    Von Helmut Frank

    Wer an Martin Luther denkt, sieht den glaubensstarken Reformator vor sich, den mutigen Bekenner. Doch zu seinem Wesen gehört die zutiefst menschliche Seite der Angst. Die Überwindung dieser Angst ermöglichte erst die Reformation der Kirche.

    Es ist eine alarmierende Zahl: Etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Angststörungen. Manchmal sind es konkrete Ängste: die Angst, den Job zu verlieren, oder die Angst, dass im Rentenalter das Geld nicht reicht. Es sind die Sorgen um die Ausbildung der Kinder oder um die Gesundheit des Ehepartners. Und dann gibt es da noch diese Lebensangst, die einen in den Griff nimmt, die alles zu bestimmen scheint.

    Dass auch gläubige Menschen davon nicht verschont sind, erfahren Seelsorger jeden Tag. Vielleicht auch an sich selber. Hat der Glaube hier eine Antwort? Kann der Glaube helfen?

    Wer an Martin Luther denkt, sieht den glaubensstarken Reformator vor sich, den mutigen Bekenner. Doch zu seinem Wesen gehört die zutiefst menschliche Seite der Angst. Luther hatte Angst, schwere Zweifel und wohl auch Depressionen. Das ist der andere Luther: der ängstliche, mit dem Bösen ringende Mönch, der angefochtene Reformator.

    Einmal ließ Luther tief in seine Seele blicken, als er schrieb: »Mehr als eine Woche lang war ich den Toren der Hölle und des Todes nahe. Ich zitterte an allen Gliedern. Christus war mir verloren. Ich war hin- und hergeschüttelt von Verzweiflung.«

    Diese Seite des Reformators darf nicht vergessen werden. Denn im Zentrum der Reformation stand nicht die Auseinandersetzung mit Rom, sondern eine seelsorgerliche Frage: die Tröstung des geängs­tigten Gewissens. Luther ging es zuerst um den Umgang mit Angst. Er hat sich nie gescheut, von sich, seinen Ängsten und Anfechtungen zu reden: »Ich selbst«, lässt er den Humanisten Erasmus von Rotterdam in seiner Schrift »Vom unfreien Willen« wissen, »bin mehr als einmal bis in die Tiefe und in den Abgrund der Verzweiflung hinabgestoßen worden, sodass ich wünschte, ich wäre nie als Mensch erschaffen worden, solange ich nicht wusste, wie heilsam und wie nahe der Verzweiflung solche Gnade ist.«

    Wie wortmächtig Luther seine Ängste ausdrücken konnte, das hat der Rhetoriker Walter Jens (1923 - 2013) in seinem Lutherporträt herausgearbeitet. Mit einer Inständigkeit, schreibt Jens, die in der Literatur ohne Beispiel ist, habe Luther die Seelen­lage eines Menschen veranschaulicht – seine eigene! – der Tod, Fegefeuer und Jüngstes Gericht im Hier und Jetzt durchlebt. In allen Seelennöten wird das große Sterben, was über die ganze Welt kommen wird, beispielhaft vorweggenommen, verlagert ins Gewissen, einem inneren Inferno, in dem der Teufel den Hauptpart spielt, der "höllische Kaiser" und "Gott dieser Welt", mit dem Luther sein lebenslanges Zwiegespräch führte. In diesem tiefsten Inneren führte der Bedrohte Geis­tergespräche mit den biblischen Figuren der Schrift: imaginäre Dialoge, in deren Verlauf die angefochtenen Heiligen (Abraham, Hiob oder Petrus) den Charakter von Nothelfern gewinnen: Paulus, mit dem Luther über den Teufel und das Kreuz disputierte, oder Jesus von Nazareth, dessen Niedrigkeit mit aller Angst, Todesnot und Verzweiflung der Reformator wieder und wieder in dramatischer Rede vorgeführt hat. Christus, heißt es in Luthers Karfreitagspredigt vom 18. April 1522, sei ein fein pur lauter Mensch gewesen. »Darum hat er auch in des Todes Ängsten so getrauert und gezagt. Die Angst aber ist, eh einer stirbt, ein Stund oder vier vor dem Tod, wenn einer sieht dem Tod in die Fress hinein, sieht, dass der Tod seinen Rachen aufsperret und auf ihn zufallen will. Da geht dann ein solch Not und Angst an, ein solch Zagen und Trauern, dass es ihm durch alle seine Gliedmaß geht, durch Leib und Leben, durch all Mark und Gebein.«

    Wenn man Luthers Seelenlage überschaut, dann wird klar, dass Reformation nicht so sehr den äußeren Kampf gegen die Missstände der Kirche meint. Reformation bedeutet überhaupt nicht Protest im Sinne eines Aufbegehrens und Dagegenseins, sondern ein großes, neues Ja, nämlich die Überwindung der mittelalterlichen Angst vor der Verdammnis im Jüngsten Gericht durch eine neue Gewissheit des Heils in Christus. Um die Reformation verstehen zu können, muss man also etwas wissen von dem inneren Ringen des Mönchs Luther und seiner Verzweiflung, ebenso wie von dem Trost und der Zuversicht, die ihm von Gott her zuteilwurden.

    Luther musste mehrere Male dem Tod ins Auge sehen. Einmal verletzte er sich als Student mit seinem Degen an der Schlagader seines Oberschenkels und geriet in Todesangst. Später grassierte in Erfurt, wo er studierte, die Pest. Mehrere Freunde starben. Dann geriet er bei Stotternheim in ein Gewitter. "Vom Himmel durch Schrecken gerufen" sei er Mönch geworden, schrieb Luther später einmal. In Todesangst legte er sein Gelübde ab: "Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!" Nicht allein der Tod hatte Luther aufgeschreckt, sondern noch mehr das, was danach kommt und droht: das Jüngste Gericht und die Verdammnis. Mit dem Bild des Weltenrichters drohte die mittelalterliche Frömmigkeit überall. Fast über jedem Kirchenportal fand man die Darstellung des Weltgerichts. Durch den Blitz sah er sich bereits in der Hölle, das erschreckte ihn zutiefst.

    Im Kloster erlebte Luther zunächst ein Nachlassen seiner Ängste, aber nur für kurze Zeit. Schon seine erste Messe wurde zu einer traumatischen Erfahrung. Drastisch beschreibt er, wie sehr ihn Angst und Panik gequält haben: "Ich wurde gebadet und getauft in meiner Möncherei und hatte die rechte Schweißsucht, Gott sei gelobt, dass ich mich nicht zu Tode geschwitzt habe."

    Beichtväter und Seelsorger konnten den Panikattacken nicht beikommen. Luther erlebte das Sprichwort "Wer sich vor der Hölle fürchtet, der kommt hinein" am eigenen Leibe.

    Luther konnte sich aus dieser psychischen Angsthölle nicht selbst befreien, er erkannte, dass sein seelischer Zustand nicht durch menschliche Anstrengung stabilisierbar ist, weder durch gutes Mönchsein oder moralische Taten noch durch intellektuelle Denkleistungen.

    Professor Thorsten Dietz von der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg hat den Begriff der Furcht bei Luther wissenschaftlich erforscht. Er ist sich sicher, dass Luther im Umgang mit den Ängsten seiner Zeit Dinge entdeckt hat, die auch heute noch wertvoll sind für den Umgang mit Lebensängsten.

    Dietz fand heraus, dass Luther im Ringen mit den biblischen Texten nach und nach einen neuen Weg entdeckte, mit der Angst umzugehen. Zunächst entdeckt er in den biblischen Psalmen Worte, seine eigene Angst vor Gott auszudrücken: "Ich schütte meine Klage vor ihm aus und zeige vor ihm an meine Not." (Psalm 142, 3) Psychologisch betrachtet ist diese Bewusstmachung der erste Schritt aus der Angst. Die Angst muss angenommen und ausgehalten werden, damit verliert sie ihre lebensbeherrschende Macht. Luther praktizierte das, was auch die Angstforschung als Grundwahrheit erkannt hat: Die Angst kann nur überwunden werden, wenn man ihr ins Gesicht sieht. Er nahm seine Ängste und seine Angefochtenheit in die Mitte des Glaubens, gab ihnen Räume und Ausdrucksformen. "Sodann lernt Luther, die Trostworte der Bibel ganz persönlich für sich in Anspruch zu nehmen, sie als Zusage bedingungsloser Gnade zu lesen und zu glauben", schreibt Dietz. "Zur echten Hilfe wurden ihm biblische Bilder, die im gekreuzigten Christus die gnädige Nähe Gottes für die Verlorenen vor Augen malten."

    In seiner Magnificatauslegung (1521) bringt Luther diesen Zusammenhang eindringlich zur Geltung: "In die Tiefe will niemand sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen von ab. Darum sieht Gott allein in die Tiefe, Not und Jammer und ist nah allen denen, die in der Tiefe sind. So hat er auch seinen einigen liebsten Sohn Christum selbst in die Tiefe allen Jammers geworfen und an ihm vortrefflich gezeigt sein Sehen, Werk, Hilfe, Rat und Willen, worauf er gerichtet ist."

    Dietz: "Keine Gedanken und keine Anstrengungen beseitigen die Angst, wohl aber die Erfahrung bedingungsloser Liebe. Im Vertrauen auf den Gekreuzig­ten erweist sich die menschliche Angst gleichermaßen als ertragbar wie überwindbar." Und: "Der Blick auf Christus ermöglicht es, Angst auszudrücken, anzunehmen und Gott ihre Überwindung zu überlassen", gemäß dem Jesuswort: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Johannes 16, 33).

    Ein wesentlicher Teil der neuen Wahrnehmung Jesu Christi bestand für Luther in der Entdeckung des geängstigten Chris­tus. In ihm begegnet die Gnade Gottes. Eine Gnade, die nicht mit Bedingungen verknüpft ist, sondern unbedingt gilt, unabhängig von der seelischen Erfahrungssituation. Angst ist dann auch nicht mehr Zeichen der Verdammnis, sie ist Zeichen des Heils, Zeichen der Gleichgestaltung mit Christus. Nicht nur der liebende, bereuende, büßende Mensch ist fähig, Gnade zu erlangen; gerade der verzweifelte, zerschlagene, innerlich aufgelöste und erschrockene Mensch. Luther erkannte, dass Gott ihn liebt und annimmt in allen Ängsten, Nöten und Seelenqualen. Die Gewissheit der bedingungslosen Gnade Gottes war für ihn die Botschaft des Evangeliums und befreiende Kraft.

    Mit dieser neuen Erfahrung wandte sich Luther gegen die Angst machende Kirche. Und hier war Luther ein wahrer Kämpfer. Er stellte Denkmuster infrage, die Menschen zur Verzweiflung treiben konnten. Er wehrte sich gegen die nutzlose Furcht, die von außen kam, gegen die kirchliche Angstmacherei vor Tod und Hölle. Die Idee einer für den Glauben nützlichen Furcht verwarf er.

    Die Kirche als sakrale Heilsanstalt, als Agentur für Angstbeseitigung hatte ausgedient. Deshalb kam es zum Bruch mit Rom.

    Der christliche Glaube ist ein Lebensweg, auf dem Ängste der Endlichkeit, der Verlassenheit und Verlorenheit ausgedrückt, angenommen und bewältigt werden können, auf dem die bedingungslose Liebe Gottes Raum gewinnen kann. Luthers Kampf und die Reformation erinnern daran, dass Gott uns auf diesem Weg weit entgegenkommt.

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