„German Angst“
Von Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Theologischer Referent für Wirtschafts- und Sozialethik, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN
1991 war die mit dem Fall der Berliner Mauer verbundene Aufbruchsstimmung verebbt, bevor sie richtig begonnen hatte. Der damalige Bundesvorsitzende der FDP und ehemalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff bezeichnete dieses Phänomen in einem Interview mit der New York Times als „German Angst“, als die typisch deutsche Furcht vor dem Verlust von Wohlstand und Sicherheit.
Eine psychologische Erklärung der German Angst versucht die „Conservation of Resources Theory” (Theorie von der Bewahrung der Ressourcen) von Stevan Hobfoll. Danach gründet die German Angst in der ganz natürlichen Furcht vor dem Verlust von materiellen und immateriellen Gütern (Ressourcen). „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“ war das Lebensziel der Generation, die nach dem 2. Weltkrieg viel Energie aufgewendet hat, um aus Trümmern wieder ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen – mit der steten Furcht vor dem Verlust des im Wirtschaftswunder erreichten Wohlstandes. Nach Hobfoll verursacht dabei die Furcht vor dem Verlust ungleich mehr negativen Stress als die Mühen der Aufbauarbeit.
Außenstehende Beobachter hat die German Angst als Furcht vor dem Verlust des erreichten Wohlstandes stets irritiert. Die wirtschaftlichen Daten Deutschlands sind im Vergleich mit anderen Ländern nämlich hervorragend und geben sachlich keinen Anlass zu solch einer Furcht.
Dass die „German Angst“ nicht nur eine Furcht vor dem Verlust wirtschaftlichen Wohlstandes ist, sondern letztlich eine Furcht vor dem Verlust von Sicherheit und Kontrolle, wird deutlich, wenn man sich Beispiele anschaut, die auch als Veranschaulichung der German Angst aufgeführt werden.
Die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima führte 2011 in Deutschland zu einer international beispiellos abrupten Einleitung des Ausstieges aus der Kernenergie, während Japan und die europäischen Nachbarländer deutlich langsamer – wenn überhaupt – reagierten. Aus Anlass der Schweinegrippe sollten im Jahr 2009 in Deutschland bis zu 50 Millionen Menschen geimpft werden. Am Ende wurden die meisten Impfdosen nicht gebraucht. Die Furcht vor BSE führte in Deutschland im Jahre 2001 zu einem starken Rückgang im Fleischverzehr, obwohl Rinder in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien deutlich weniger von BSE betroffen waren.
Von der „German Angst“ zur neuen deutschen Lässigkeit und wieder zurück
Ob die „German Angst“ tatsächlich ihre Ursache in der Furcht vor dem Verlust des erreichten Wohlstandes hat, wie es Otto Graf Lambsdorff 1991 vermutet, wird durch die Beobachtung Ulrich Greiners aus dem Jahre 2009 infrage gestellt, der in einem Artikel der ZEIT erstaunt fragt, was denn aus der German Angst geworden sei? „Mitten in der Wirtschaftskrise regen sich die Deutschen nicht mehr auf als die Bürger anderer Nationen auch. Die Lust an der Apokalypse ist ihnen vergangen“. Diese neue deutsche Lässigkeit in wirtschaftlichen Zusammenhängen verhinderte aber nicht, dass in genau diesem Zeitraum der deutsche Umgang mit der Schweinegrippe und der Katastrophe von Fukushima im internationalen Vergleich als Beispiel für die „German Angst“ wahrgenommen wurden. Und nicht zuletzt die Reaktionen auf die Flüchtlingskrise und das Erstarken von politischen Gruppierungen, die sich weniger dem sachlichen Diskurs als vielmehr der emotionalen Agitation verschrieben haben, lässt vermuten, dass das mit dem Ausdruck „German Angst“ beschriebene Phänomen sich nicht verabschiedet hat – und, wie der Wandel der politischen Kultur in den Nachbarländern angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen anzeigt, letztlich auch kein typisch deutsches Phänomen ist.
„German Angst“ ist Angst in Germany
Typisch deutsch an der „German Angst“ ist wohl nur, dass sich die Angst in Deutschland eben genau der Instrumente bedient und eben genau die Gelegenheiten benutzt, die geschichtlich in unserem Land zum Ausleben der Ängste zur Verfügung stehen. Auch Stevan Hobfoll setzt die „German Angst“ ja in Beziehung zur ganz natürlichen und nicht spezifisch deutschen Furcht vor dem Verlust von materiellen und immateriellen Gütern. Sich ängstigen ist einfach menschlich und Mut oft nur Mangel an Phantasie. Die Herausforderung der Zukunft bleibt, mit diesem menschlichen Phänomen so umzugehen, dass es uns nicht unmenschlich werden lässt.
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