„Wir sind ideologisch verbaut“
Gespräch mit dem Soziologen Heinz Bude über die Angst in Deutschland, und warum sich diese nicht mit Argumenten bekämpfen lässt
Zwar sind 80 Prozent der Deutschen mit ihrer persönlichen Lage zufrieden. Doch gleichzeitig existiert ein großes Unbehagen und eine Angst, wie es in Zukunft weitergehen wird. Der Soziologieprofessor Heinz Bude (Kassel) erklärt warum.
zeitzeichen: Herr Professor Bude, sind wir Deutschen ein Volk von Angsthasen?
Heinz bude: Nein. Zwar wird gerne und oft behauptet, dass die Deutschen eine besondere Angstdisposition haben, also so eine Art apokalyptisches Grundgefühl. Aber das halte ich für Unsinn. Nehmen Sie nur einmal die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, die stärkste seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich sehe im oecd-Raum keine Gesellschaft, die ruhiger und gesammelter reagiert hat als die deutsche. Und denken Sie nur an die Briten. Der Brexit beruht doch auch auf Angst.
Und welche Ängste haben die Deutschen?
Wir befinden uns am Ende einer Periode von dreißig bis vierzig Jahren, die manche als Neoliberalismus bezeichnen. Und sie war im Kern durch die Vorstellung charakterisiert, dass nur eine Gesellschaft starker Einzelner eine gute Gesellschaft ist. Der amerikanische Präsident George W. Bush hat das die Gesellschaft der Eigentümer genannt. Und der britische Premierminister Tony Blair sprach von einer Gesellschaft des sich selber Ermöglichens. Die Idee dahinter heißt: Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die die Möglichkeiten der Einzelnen, ihre Kompetenzen und Potenzen stärkt. Dann werden sie schon für sich selber sorgen. Und wenn alle für sich selber sorgen und denken können, leben wir in einer guten Gesellschaft. Und das stimmt ja auch, das ist eine zivile Gesellschaft. Aber die allermeisten Menschen in den westlichen Gesellschaften glauben das nicht mehr.
Woran machen Sie das fest?
Sehr viele Leute haben den Eindruck gewonnen, jene Idee habe bewirkt, dass weite Teile der Gesellschaft der Schutzlosigkeit preisgegeben worden sind. Wenn Menschen heute etwas wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit passiert, werden sie in dem erwähnten Gesellschaftsmodell selbst dafür verantwortlich gemacht. Nun treibt viele Menschen die Angst um, dass dieses Modell in eine Sackgasse geführt hat. Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Tony Blair und am Ende auch Gerhard Schröder haben ja auf die Einzelnen gesetzt. Doch hat sich herausgestellt, dass eine Gesellschaft verloren ist, die nur auf die Einzelnen setzt. Denn am Ende können selbst Reiche und Starke sich nicht vor dem Klimawandel retten oder dafür sorgen, dass ihre Kinder einigermaßen sicher morgens in die Schule gehen können. Die Leute haben eine zweifache Angst: einerseits nur noch auf sich selbst gestellt und damit der Schutzlosigkeit aufgeliefert zu sein und dass Politikerinnen und Politiker andererseits keine Konzepte dafür haben, wie es weitergehen kann.
Aber die meisten Deutschen behaupten doch, sie seien mit ihrer persönlichen Lage sehr zufrieden.
Ja, wir befinden uns in einer sehr, sehr merkwürdigen Situation. Über 80 Prozent der Deutschen sind mit ihrer persönlichen Lage zufrieden, und über 30 Prozent, fast 35 Prozent glauben, dass es im kommenden Jahr sogar besser wird. Gleichzeitig sagen dieselben Leute, dass im Ganzen etwas nicht stimmt. Es gibt also ein Unbehagen im großen Ganzen und eine Zufriedenheit mit sich selber. Und diese Situation kann von Populisten zur Explosion gebracht werden.
Lässt sich Angst mit Argumenten und Faktenchecks bekämpfen?
heinz bude: Nein, da helfen keine Argumente. Wenn meine Grundthese stimmt, geht es um ganz etwas anderes. Nämlich darum, dass man im Grunde das Gefühl hat, am Ende von etwas zu sein, aber keine Idee eines Anfanges zu haben. Und das bewirkt die große Angst. Man kann es mit Theodor W. Adorno Zukunftsverbautheit nennen. Und diese ist auch der Kern für Ressentiments, von Feindlichkeit gegenüber Leuten, denen man bisher relativ gelassen gegenübergestanden ist. Deshalb nützt es auch gar nicht zu sagen, dass das, was Populisten verbreiten, Fake-News sind.
In den Achtzigerjahren haben sich die Leute vor dem Waldsterben und dem atomaren Wettrüsten gefürchtet. Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den damaligen und den heutigen Ängsten?
Die Absorption von Angst funktioniert nicht mehr so gut. Leute mit Ressentiments hat es immer gegeben. Heute stehen rund 30 Prozent der Deutschen der Demokratie skeptisch gegenüber. Vermutlich ist das um 1980 nicht anders gewesen. Aber damals haben die meisten trotzdem die Partei gewählt, die sie immer schon gewählt haben, in der Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht. Heute ist das Gefühl verbreitet, dass wir aus den Problemen nicht mehr herauskommen. Die Wirtschaftskrise von 2008 ist in Deutschland ziemlich gut gelöst worden, aber die Frage des Finanzmarktkapitalismus eben nicht. Keiner weiß, ob die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank sinnvoll ist. Vielleicht verbaut sie unsere Zukunft. Oder nehmen Sie die Bekämpfung von Fluchtursachen in Afrika. Ich behaupte: Die Bekämpfung von Fluchtursachen führt zu mehr Migration. Denn wenn es den Afrikanern besser geht, wollen noch viel mehr zu uns kommen, um hier zu arbeiten. Doch was folgt aus dieser Erkenntnis? Gar nichts tun? Und das ist genau der Mechanismus, mit dem wir es bei vielen aktuellen Fragen zu tun haben.
Das Gefühl einer ausweglosen Situation und einer damit verbundenen Orientierungslosigkeit
beherrscht die Zeitgenossen.
Studien zeigen, dass sehr viele Leute überzeugt sind, dass am Kapitalismus etwas grundsätzlich nicht stimmt. Dieses Gefühl ist selbst bei denen verbreitet, die von ihm profitieren. Aber das Schlimme ist: Der Antikapitalismus ist heimatlos geworden, er ist für rechte Kräfte genau so offen wie für linke. Und sie sind sich einig in ihrer Systemfeindschaft. Das hat man bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich sehr schön sehen können. Da hat Jean-Luc Mélenchon von der Linkspartei dasselbe gesagt wie Marine Le Pen vom Front National, nämlich dass die Deutschen an allem schuld sind. Und gut die Hälfte der Franzosen hat dem zugestimmt. Es scheint also etwas durcheinander geraten zu sein. Emmanuel Macron hat mit seiner Bewegung „En Marche“ aber Erfolg gehabt, weil er den Leuten das Bild einer Zukunft vermittelt hat, an das sie glauben können. Und das halte ich für die beste Möglichkeit, Angst zu zerstreuen.
Ist das der Unterschied zu früheren Ängsten? Mit der Sozialen Marktwirtschaft ist es ja immer mehr bergauf gegangen, Renten, Löhne, Arbeitsplätze und die Zukunft schienen sicher zu sein.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren sind die Leute nicht sehr optimistisch gewesen, denn es hat zum Beispiel die Bedrohung durch das Wettrüsten der beiden Blöcke gegeben. Aber viele Leute hatten in der Kriegs- und Nachkriegszeit so viel durchgemacht, dass es eigentlich nur noch besser werden konnte. Und heute ist es umgekehrt. Die Zukunft kann nur noch schlechter werden als heute. Früher hatten die Leute das Gefühl, sie seien davongekommen, jetzt denken sie, das Schlimmste stehe ihnen und ihren Nachkommen noch bevor. Sie fürchten sich vor der Zukunft. Denken Sie nur an den Sozialstaat, der versagt, den Klimawandel oder auch die nuklearen Bedrohungen.
Findet sich das Gefühl, dass das Schlimmste noch vor uns liegt, in allen gesellschaftlichen Milieus?
Lange Zeit war der klassische Angsttyp moderner Gesellschaften der soziale Aufsteiger männlichen Geschlechts. Und zwar in allen oecd-Ländern. Durch das Verlassen des herkömmlichen Milieus entstand eine Heimatlosigkeit mit neuen Formen von Einsamkeit. Heute rieselt die Angst in alle Poren der Gesellschaft.
Die Menschen haben heute viele Wahlmöglichkeiten, anders als ihre Vorfahren. Das müssten sie doch positiv sehen.
Ja, es gibt ja auch Zufriedenheit. Die Frage ist nur, was bringt die Zukunft? Oder um es an die
Dialektik der Wahlmöglichkeiten zu zeigen: Im Internet gibt es viele Angebote Angebote, einen Partner, eine Partnerin zu finden. Und zum Wählen gehört auch das Gewähltwerden. Ich will begehrenswert sein, aber sieht das der Andere auch so? Da ist wieder etwas, das man nicht kontrollieren kann. Ja, je mehr man versucht, die Partnerwahl für sich zu kontrollieren, desto unkontrollierbarer wird sie. Und das macht Angst. Was habe ich davon, wenn ich den Menschen meines Glücks treffe, und der mich nicht will?
Wenn das Gefühl der Angst alle Schichten durchdringt, können die Leute dann auch über ihre Ängste reden?
Niemand würde bestreiten, dass er Angst hat. Aber man redet nicht darüber. Jedenfalls sind Gespräche, bei denen es um Angstbewältigung geht, zum Beispiel über Religion, vielen unangenehm. In Talkshows wird über Sex, Burnout, auch über die Angst um die Kinder gesprochen. Aber bei der Frage, was man eigentlich glaubt, wird es schwierig.
Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?
Angst ist ansteckend und verführerisch. So sind zum Beispiel die Zahl der Vergewaltigungen ebenso gestiegen wie die Zahl der Wohnungseinbrüche. Obwohl die allgemeine Kriminalität zurückgeht. Viele Menschen behaupten, dass diese Anstiege geleugnet und verschwiegen werden. Da wird schnell aus Angst ein System der Lüge konstruiert.
Haben Politiker und Politikerinnen versagt?
Rechtspopulistische Parteien thematisieren auf der ganzen Welt die Zuwanderung. Hier stellt sich die Frage, wie wir über Fremdenangst diskutieren, in panischer Erregtheit, zynischer Abgeklärtheit oder in einer Gesammeltheit, die die Dinge zur Kenntnis nimmt und trotzdem nicht an ihr verzweifelt?
Wie verändert diese Angst unsere Gesellschaft?
Wir sehen im Augenblick in allen europäischen Gesellschaften, dass die Volksparteien die Leute auch gefühlsmäßig nicht mehr ansprechen und an sich binden. In Deutschland ist das nur noch nicht so weit fortgeschritten wie zum Beispiel in Frankreich.
Was heißt das?
Wenn es ihm schlecht geht, kann ein klassischer Sozialdemokrat immer noch sagen: Schuld ist das Kapital. Ein Konservativer würde vielleicht sagen, es gibt noch etwas anderes als die Arbeit, und ein Liberaler: Next time is your time. Das sind alles Botschaften, die Menschen binden. Alle sagen letztlich: Beruhige Dich, es wird schon wieder. Aber in der individualisierten Gesellschaft funktioniert das nicht mehr.
Ich bin kein Optimist, aber relativ hoffnungsvoll.
Es fehlt also an Beheimatung.
Ja. Welcher Konservative sagt heute noch, konservativ sein heißt, dass es noch etwas anderes gibt als die Politik. Welcher Sozialdemokrat sagt heute noch, wir leben in einem kollektiven Kontext, der uns hält. Welcher Liberale sagt, dass das Lob des Tüchtigen gilt. Diese Botschaften sind für viele Leute vulgär geworden.
Wie kann man darauf reagieren?
Wir müssen den Begriff des Kollektivs neu belegen. Und zwar von einer liberalen offenen Position aus, nicht von rechts, wie es gerade geschieht. Die Idee eines Wir, das sich nicht abschließt, sondern öffnet und trotzdem ein Wir bleibt. So müssen wir fragen: Was schützt Menschen? Welcher Schutz schränkt sie ein? Und welcher ermöglicht ihnen etwas? Diese Fragen liegen auf dem Tisch, werden aber nicht angegangen, weil es vielen Menschen in Wissenschaft und Politik zu gefährlich ist. Wir sind angesichts einer ungewissen Zukunft eben auch ideologisch verbaut.
Das klingt pessimistisch.
Ich bin kein Optimist, aber relativ hoffnungsvoll. Zwischen Hoffnung und Optimismus gibt es einen großen Unterschied. Der Hoffnungsvolle sagt, die Lage, in der wir uns befinden, ist nicht das letzte Wort der Geschichte, die Geschichte geht weiter. Der Optimist sagt, es wird schon alles wieder gut. Aber ich weiß nicht, ob alles wieder gut wird.
Und der Engel sprach: „Fürchtet Euch nicht, ich verkünde euch eine große Freude.“ Das ist die Botschaft, die wir in den Weihnachtsgottesdiensten wieder hören werden. Was erwarten Sie von Kirchen bei der Bewältigung der Angst?
Das „Fürchtet Euch nicht“ war einer der wesentlichen Sätze von Papst Johannes Paul II., der
zum Niedergang des Kommunismus beigetragen hat. Er enthält eine doppelte Botschaft. Das hat man bei den Besuchen des Papstes in Polen sehr schön wahrnehmen können. Fürchtet euch nicht, heißt: Ihr braucht keine Angst zu haben. Aber auch: Die Welt ist von euch gemacht. Daher könnt ihr sie ändern. Das ist der eigentliche Punkt. Fürchtet euch nicht, heißt meines Erachtens: Hofft nicht auf jemand anderen, sondern erkennt, dass die Welt, an der ihr leidet, von euch gemacht worden ist. Und darum
ist sie auch veränderbar.
Die Kirchen sollten also das „Fürchtet Euch nicht“ betonen.
Ich erwarte, dass die Kirchen dieses metaphysische Quantum in der Thematisierung von Zukunft ernst nehmen und sich so von Optimisten unterscheiden. Kirchenführer müssen etwas sagen, das man, wenn man einigermaßen vernünftig ist, auch glauben kann.
Wird die Angst auch in Zukunft noch Deutschland beherrschen?
Ja, daran wird sich so schnell nichts ändern.
Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 27. September 2017 in Berlin.
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Aus zeitzeichen 12/2017.
Wir danken zeitzeichen für die Veröffentlichung dieses Artikels.
Über Heinz Bude
Heinz Bude lehrt seit 2000 als Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Generations-, Exklusions- und Unternehmerforschung. Der 63-Jährige leitete zuvor den Bereich „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“ am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Bude ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Von ihm erschienen „Gesellschaft der Angst“ (2014) und im vergangenen Jahr „Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen“.