Raues Klima
Wenn Vorurteile übermächtig werden
von Andreas Zick
Wenn die Ängste wachsen, gedeihen auch die Vorurteile. In einer Gesellschaft, die auf die Leistungsfähigkeit von Einzelnen setzt, ist das Vorurteil ein mächtiges Instrument, um Anschluss zu finden. Wie Vorurteile entstehen, erläutert der Sozialpsychologe Andreas Zick. Er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Täglich ein Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft. Diese Meldung stammt nicht aus dem vergangenen Jahr, sondern vom November 2017. Man könnte meinen, es sei unverständlich, da ja die Zahl der Flüchtlinge zurückgeht. Das aber wäre zynisch. Waren die Tausend bekannten Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verständlicher, weil es eine so genannte Flüchtlingskrise gab, und die Gelegenheit zur Gewalt größer war? Die meisten Straftaten scheinen einen rechtsradikalen Hintergrund zu haben, meint das Bundeskriminalamt, und mag auf den ersten Blick auf einen signifikanten Anstieg des organisierten Rechtsextremismus zurückzuführen sein. Die Zahl der organisierten Rechtsextremisten ist schließlich auf über 23 000 Personen angestiegen. Allerdings ist der Anteil an Gewalttaten unter Bürgerinnen und Bürgern, die aus der so genannten Mitte der Gesellschaft stammen, immer noch ausgesprochen hoch. Und dazu gehören zunehmend Taten, die einer Radikalisierung in rechtspopulistischen Milieus in dieser Mitte entspringen.
Ein zentraler Aspekt wird mit dem Blick auf die sichtbare Gewalt des Extremismus oft ausgeblendet. Ohne Vorurteile und rassistische Weltbilder über die möglichen Opfer und ihre Unterstützer sind die Taten nicht nachvollziehbar. Die sichtbaren Taten basieren auf offenen wie versteckten Vorurteilen, die die Radikalisierungen und Taten geleitet haben. Die Taten realisieren das Vorurteil. Sie waren demnach auch zu erwarten, denn Studien zeigen, wie sehr in den vergangenen beiden Jahren insbesondere Vorurteile gegenüber Flüchtlingen signifikant zugenommen haben. Wir müssen gar nicht so weit nach rechts schauen, um Anzeichen dafür zu finden, dass Vorurteile und menschenfeindliche Ideologien das Klima im Land kälter und bedrohlicher für Mitglieder von Minderheiten machen. Rechtspopulistische Gruppen und Parteien haben eine massive selbst ernannte Widerstandsbewegung gegen die Zuwanderung und vermeintliche Unterwanderung durch Fremde organisiert, und nun sitzen Abgeordnete in Landtagen und im Bundestag, die dezidiert negative Stereotype und Vorurteile sowie eine nationalchauvinistische Haltung vertreten, die das Deutschnationale betont. Nein, es sind nicht alle AfD-Mitglieder und Repräsentanten rassistisch, aber einige eben schon. Und manche geben den Ton an, während andere dem nicht widersprechen.
Blickt man vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, auf die, die zunächst unverdächtig eher auf den Zuschauerrängen sitzen und nicht vorurteilsbasiert handeln, lassen sich weitere Vorurteilsspuren erkennen. In der Mitte ist der Anteil jener, die klammheimlich zustimmen und aus unterschiedlichen Gründen keine Hilfe ausüben, wo es Bürgerpflicht wäre, relativ hoch. In dieser Mitte ist trotz aller Willkommenskultur und der immensen ehrenamtlichen Hilfe einer Zivilgesellschaft, die sich im Zuge der Immigration von Flüchtlingen entwickelt hat, das Klima gröber, rauer und ausgrenzender geworden. Die Zahl derjenigen, die Opfer von Hate Crimes werden, steigt. Mit Hate Crimes sind Taten beschrieben, die aufgrund von Vorurteilen zustande kommen, weil Gruppen oder Personen, die bestimmten Gruppen angehören oder zugeordnet werden, negative Eigenschaften der Minderwertigkeit, Abweichung, Nicht-Normalität, oder gar mangelnder Menschlichkeit zugeschrieben werden. Und auch Gruppen, die mögliche Opfer unterstützen, werden angegriffen. Ebenso hat nach neuen Studien das Aufkommen von Hassreden gegen andere eher noch zugenommen.
Hass und Tunnelblick
Soziale Vorurteile, die mit dem Hass zum Ausdruck gebracht werden und wie ein Filter die Wahrnehmung und den Tunnelblick jener bestimmen, die hassen, beleidigen, angreifen, beschimpfen oder zuschlagen, entstehen nicht in einem sozialen Vakuum. Sie können auch nicht auf einen evolutionären Angstreflex oder einfache Persönlichkeitsfaktoren zurückgeführt werden. Vorurteile sind Produkte ihrer sozialen Umwelt. Vorurteile sind gesellschaftliche Phänomene, die durch soziale Prozesse entstehen und dann zunehmen, wenn bestimmte soziale Prozesse Gesellschaften prägen.
Der wichtigste Faktor, der Individuen an Gesellschaften bindet, ist dabei nach Forschungslage die soziale Identität, die Menschen an Gruppen bindet. Vorurteile entstehen weniger aus Konflikten um Ressourcen wie Arbeitsplätze, Wohnungen und andere Güter. Sie entstehen weniger aus Frustrationen über eine eigene gesellschaftlich unerwünschte Lage, die sich in Aggressionen entlädt. Sie mögen früh bei der Erziehung und Bildung in Familien, der Kindertagesstätte oder in der Schule vermittelt werden, aber auch dies ist nur dann möglich, wenn Menschen sich mit Personen oder Gruppen identifizieren. In einer Studie zu Anti-Roma-Vorurteilen in Ungarn zeigt Luca Varadi vom Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin sehr eindrucksvoll, dass Schüler ziemlich gut wissen: Die Lehrerinnen und Lehrer und auch die Eltern mögen es nicht, wenn sie geradezu entmenschlichende Vorurteile über Roma haben. Aber die Jugendlichen richten sich nach dem, was die Gleichaltrigen gut finden. Und die orientieren sich an den unfassbar negativen Bildern in Medien, die sie mit ihrer ungarischen Identität verbinden.
Das Vorurteil braucht die gesellschaftliche Gruppe, die es an die Mitglieder vermittelt, und Menschen brauchen Gruppen, um Motive zu erfüllen. Dazu gehört das Motiv der Zugehörigkeit. Das Vorurteil gegen die Anderen schafft Zugehörigkeit zu den Eigenen. Das Vorurteil der Gruppe lässt die Welt verstehen. Der Antisemitismus ist ein ewiges Beispiel. Er wird getragen von kollektiven Mythen, die das Judentum für alles verantwortlich machen und Weltzusammenhänge erklären. Ein Körnchen „Wahrheit“ lässt sich dabei immer finden. Das Vorurteil ermöglicht Macht, Einfluss und Kontrolle über andere. Der Sexismus hält die Gleichstellung in Schach. Das Vorurteil schafft emotionalen Selbstwert, den die Menschen in engeren sozialen Verbünden, wie Familien und in Partnerschaften nicht bekommen. Die Abwertung der Fremden erhöht die Menschen für Momente, die durch permanente Abwertung anderer immer wieder den Selbstwert herstellen können. Und schließlich ermöglicht die Ausgrenzung die Herstellung von Vertrauen in die eigene soziale Umwelt. Das Misstrauen gegenüber den vermeintlich Fremden stellt das Vertrauen her. Dies alles gelingt nur, wenn Menschen sich mit Gruppen identifizieren, die durch vorurteilsgeladene Ideologien zusammengehalten werden. In einer Gesellschaft, die zersplittert und immer stärker auf die Leistungsfähigkeit von Einzelnen blickt, ist das Vorurteil ein mächtiges Instrument, um Anschluss zu finden. Die Abgrenzung von jenen, die weniger wert sind, wie das Vorurteil es behauptet, hält nicht nur auf Distanz, sondern bindet Menschen auch an Gesellschaften.
Eine wesentliche Frage ist damit, welche Prozesse die demokratische Kultur, die im Kern von der Vorstellung einer immer stärker werdenden Gleichwertigkeit von Menschen und Gruppen getragen ist, angreifen. Es geht um Prozesse, die soziale Normen so verschieben, dass Vorurteile sie bestimmen und damit eine Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe voranschreitet und im extremen Falle Gewalt erzeugt. Einige Prozesse beobachten wir in unseren Studien.
Erstens wird die Wirkung von menschenfeindlichen Vorurteilen kontinuierlich unterschätzt. Eine Unterschätzung besteht darin, dass die Zusammenhänge von Vorurteilen nicht erkannt werden. Unsere Studien ergeben, dass Vorurteile sich so miteinander verbinden, dass sie schwer zu bearbeiten sind. An die derzeit ansteigenden Vorurteile gegenüber Flüchtlingen hängen sich antisemitische wie sexistische als auch muslimfeindliche Vorurteile. Anderseits wird der Einfluss von offenen wie auch versteckten und subtilen Vorurteilen ständig unterschätzt. In einer repräsentativen Umfrage zum Jahreswechsel 2013/14 haben wir ermittelt, dass sich die absolute Mehrheit von über 80 Prozent für tolerant und weltoffen hält. Das befördert mit Vorurteilen verbundene Meinungen zur Bedrohung durch Gruppen, etwa, wenn Bürger nach Terroranschlägen meinen, dass Muslime generell mehr zu Gewalt
neigen, und erhöht Bedrohungsgefühle und -ängste.
Zweitens beobachten wir, dass die mit der Zuwanderung von Flüchtlingen verbundene Angst um die damit einhergehenden Herausforderungen nicht allein Vorurteile befördert, sondern die Kombination von Angst und der Meinung, dass die gesellschaftlichen Institutionen und der Staat die Kontrolle verloren habe, das Vorurteil erleichtert. Ein Populismus der Kontrolllosigkeit des Staates hat bei vielen Menschen ihre Angst nicht nur an populistische Gruppen gebunden, sondern auch Vorurteile so stark gemacht, dass sie Debatten bestimmen. Der gegenseitige Vorwurf der Kontrolllosigkeit hat selbst etablierte Parteien erreicht und Populisten das Gütesiegel verliehen, sie seien das Original des Widerstandes gegen „die da oben“.
Gefahr für die Demokratie
Dies wird drittens erleichtert durch ein zunehmendes Demokratiemisstrauen, welches zu einer Dekonsolidierung von Demokratie geführt hat. Die meisten Menschen in unseren Studien finden Demokratie gut, aber sie nehmen sie als gegeben und gehen davon aus, sie sei nicht in Gefahr. Sie spekulieren, ob nicht eine starke Führung, und die stärkere Durchsetzung der eigenen Interessen eine gute Sache wären, um die eigenen erarbeiteten Vorrechte zu sichern. Das kann Demokratie längerfristig destabilisieren.
Viertens wird dies beschleunigt durch eine verbreitete Meinung, die Integration von Menschen bestimme sich nach ökonomischen Wertvorstellungen und Wertmaßstäben. Viele Menschen meinen, in der Gesellschaft herrsche ein Verdrängungswettbewerb, weil wirtschaftliche Prozesse bestimmen, was Menschen wert sind. Diese Haltung führt dazu, dass Gruppen von „Nützlichen und Unnützen“ gebildet werden.
Fünftens ziehen immer stärker scheinbar nicht vorurteilsvolle oder rassistische Identitäts-, Wahrheits- und Widerstandskampagnen mehr Menschen aus der Mitte der Gesellschaft an. Opposition gegen herrschende Meinungen wird zum Widerstand erklärt, und dies befördert die Distanzierung von Mehrheitsgesellschaften. Dies ist verbunden mit einem Identitätsversprechen: Die Zugehörigkeit zum Volk und die nationale Identität wird zum Garant von Einfluss und Vorrechten, die überall einzubrechen drohen.
Sechstens beobachten wir in dem Zusammenhang, dass Vorurteile immer stärker ein Mittel sind, den sozialen Raum, in dem Menschen leben, zu besetzen. An bestimmten Orten verdichten sich die Konflikte, die von Vorurteilen gegen vermeintliche Eindringlinge geprägt sind. Sie prägen die lokale Kultur, und diese befördert die weitere Distanzierung von der Gesellschaft.
Es könnten weitere Prozesse genannt werden, die wir in der Forschung beobachten und kontrovers diskutieren. Dabei ist die Frage zentral: Wie verschieben sich merklich oder unmerklich soziale Normen so, dass das Vorurteil mächtig wird? Bekommen wir verlässliche Antworten auf diese Frage, dann können wir mit Bedacht auch besser Antworten auf die gesellschaftlich relevante Frage bekommen, ob die Macht des Vorurteils begrenzt werden kann. Sie kann. Das zeigt die Forschung jetzt schon. Das Vorurteil kann von Identitäten und Zugehörigkeiten entkoppelt werden. Es gibt viele Wege der Bildung, der rechtlichen Gleichstellung und der Vielfalts- und Toleranzförderung. Die Forschung weiß, der Königsweg weg vom Vorurteil ist der Kontakt zwischen Gruppen. Das ist kein einfacher Weg, weil er damit einhergeht, dass gewohnte Identitäten aufgegeben werden. Hätte die Menschheit dies nicht getan, wäre die Zivilisation, die auch Menschen mit Vorurteilen schützt, nicht vorangeschritten.
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